Veranstaltung: | BAG Frieden 16.-18.4.2021 |
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Tagesordnungspunkt: | 1. Änderungsanträge zum Wahlprogram |
Antragsteller*in: | Andreas Meinicke, Sonja Katharina Schiffers, Viola von Cramon, Holger Haugk. |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 07.04.2021, 21:24 |
A48: Für eine aktive europäische Nachbarschaftspolitik, Zeile 182-192
Antragstext
Neufassung des Abschnitts mit wenigen Streichungen, Änderungen markiert
Die EU muss vor allem in ihrer direkten Nachbarschaft mehr Verantwortung
übernehmen. Die EU-Erweiterungspolitik ist dabei eine Erfolgsgeschichte, die wir
fortschreiben wollen. Deshalb treten wir für konkrete Fortschritte bei der
europäischen Integration des westlichen Balkans und eine Aufnahme der
Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien auf Grundlage der
Kopenhagener Kriterien ein. In Osteuropa streiten viele mutige Menschen in
Ländern wie Armenien, Georgien, der Ukraine oder Belarus für Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. [...]. [...] EU-assoziierten Ländern der
Östlichen Partnerschaft wollen wir den Weg zu einem EU-Beitritt offenhalten.
Sowohl auf dem Westbalkan als auch in den Staaten der Östlichen Partnerschaft
fördern wir demokratische und sozial-ökologische Transformationsprozesse, auch
durch die stärkere Knüpfung von Geldern an die nachhaltige Umsetzung von
Reformen. Wir unterstützen insbesondere die demokratische Zivilgesellschaft,
unabhängige Medien, Justizreformen und den Kampf gegen Korruption sowie Jugend-
und Kulturaustausch. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Bundesrepublik
möchten wir zudem die auch selbstkritische Vergangenheitsbewältigung und die
Versöhnung in den Ländern stärken, gerade auch in Bosnien-Herzegowina. Wir
setzen uns dafür ein, dass die lange überfällige Visaliberalisierung mit Kosovo
endlich in Kraft tritt.
Antragsteller*innen: Andreas Meinicke, Sonja Katharina Schiffers, Viola von
Cramon, Holger Haugk. Der Antrag wurde einvernehmlich in der AG Osteuropa
besprochen.
Begründung
- Streichung des Satzes: "Wir unterstützen die demokratische Zivilgesellschaft und unabhängige Medien in den östlichen Nachbarländern, wollen mehr Austausch zwischen Ost und West ermöglichen und über die Östliche Partnerschaft der EU Justizreformen vorantreiben." --> Dieser Satz wurde in den neu eingefügten Passus integriert, der Maßnahmen für die Westbalkanstaaten und die Staaten der Östlichen Partnerschaft gemeinsam beschreibt.
- Streichung des Artikels "Den" vor "EU-assoziierten Ländern der östlichen Partnerschaft wollen wir den Weg zu einem EU-Beitritt offenhalten", um einerseits klare Anreize für Georgien, Ukraine und die Republik Moldau zu schaffen, andererseits mittel- & langfristig aber keine Länder auszuschließen, die ggfs. zu einem späteren Zeitpunkt ein Assoziierungsabkommen abschließen.
- Zu lasche Geldvergabe der EU wird seitens der Zivilgesellschaften in der Region immer wieder kritisiert, deswegen u.a. stärkere Knüpfung von Geldern an die nachhaltige Umsetzung von Reformen.
- Das Inaussichtstellen des EU-Beitritts sollte als "Motor für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie" genutzt werden.
- Kampf gegen Korruption dient der Brechung des Einflusses korrupter Eliten, die vom Status Quo in der Region profitieren und deshalb kein Interesse an Reformen haben.
- Dem Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit und freien Medien wurde bei den letzten Umfragen in der Region immer wieder die höchste Priorität eingeräumt.
- Sozial-ökologische Transformationsprozesse scheinen beispielsweise aufgrund der Tatsache, dass aktuell durch den Betrieb von 16 Kohlekraftwerken in den Westbalkan-Staaten mehr CO2 ausgestoßen wird als von allen anderen Kohlekraftwerken in der EU zusammen, dringen geboten. Statt dessen sollte auf nachhaltige Energiegewinnung durch Wasserkraft und Solarenergie gesetzt werden.
- Durch Jugend- u. Kulturaustausch soll der Versöhnungsprozeß wieder in Gang gebracht werden und dabei die "toxischen" Narrative der einzelnen Volksgruppen, u.a. bedingt durch getrennte Schulen, überwunden werden.
- Die Vergangenheitsbewältigung kann nur selbstkritisch erfolgen, da ohne Anerkennung der Fakten und eigener Schuld bzw. Versäumnisse keine Aussöhnung möglich ist.
- Weiterhin Unterstützung der Zusammenarbeit aller zivilgesellschaftlichen Kräfte von Seiten der EU um den Aussöhnungsprozeß in den betroffenen Ländern, insbesondere in Bosnien, weiter voran zu bringen.
- Die bereits Jahre andauernde Ankündigung der Visaliberalisierung für den Kosovo sollte endlich umgesetzt werden, da ansonsten ein Glaubwürdigkeitsproblem für die EU entstehen könnte.
Kommentare
Thomas Schmidt:
Andrej Ferdinand Novak:
Das käme der de facto Anerkennung einer russischen Einflusszone a la 19. Jahrhundert gleich und würde Russland aus den selbst eingegangenen Verpflichtungen u.a. bei der OSZE, dem Europarat, der Charta von Paris, etc. entlassen.
Der NATO oder einzelnen NATO Staaten eine aggressive Absicht gegenüber Russland zu anzudichten bzw. solchen Narrativen Vorschub zu leisten, ist absurd. Kein Regierungschef einer Demokratie oder sonst eines rational handelnden Akteurs der internationalen Politik hat irgendein Interesse an auch nur einem Quadratzentimeter legitim russischen Territoriums. Die NATO ist gegenüber Russland nur defensiv eingestellt.
Eine vermeintliche aggressive Haltung der NATO gegenüber Russland ist ein Dauerbrenner der Propaganda und Desinformation des Kremls und wird zur Legitimation der eigenen aggressiven Politik und Kriegsführung nach innen und außen missbraucht.
Wir sollten auf der Grundlage von Fakten entscheiden und unsere Ausrichtung bestimmen und nicht aufgrund on Propagandanarrativen des Kremls.
Auch das Völkerrecht sollten wir nicht zugunsten einer Rückkehr zu Status Quo des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts aufgeben.
Thomas Schmidt:
es geht mir nicht um die Einräumung irgend eines Vetorechts für Russland bei der strategischen Orientierung souveräner Staaten. Ebenfalls geht es nicht um die formelle oder auch nur informelle Anerkennung einer etwaigen russischen Einflusszone.
Mir geht es um eine kluge, strategisch weitsichtige und europäischen (EU), deutschen und menschheitlichen Interessen dienende Politikgestaltung in Übereinstimmung mit Grüner Programmatik und Wertvorstellungen, die wissenschafts- und faktenbasiert sein muss, wenn sie nicht grandios scheitern soll.
Gerade was die Faktenbasiertheit betrifft, bin ich ganz bei Dir.
Ich bin aber fundamental anderer Ansicht in Bezug auf die Beurteilung der allgemeinen Lage im Spannungsfeld zwischen dem Westen und Russland. Diese Spannungen sind ein Fakt. Selbst wenn wir annehmen, dass sie von westlicher Seite nicht intendiert wären - was jedoch nachweisbar nicht stimmt - so ist immerhin die russische Wahrnehmung der Spannungen ein Fakt.
Dies als bloße Propaganda abzutun, ist ein Fehler. Nicht zu unrecht gestehen wir unseren osteuropäischen Partnern und Verbündeten auch zu, ihre BedrohungsWAHRNEHMUNGEN ernst zu nehmen.
Deine Behauptung, eine aggressive oder mindestens eskalierende Haltung der NATO existiere nicht, ist nicht durch Tatsachen gedeckt. Nur ein Beispiel das Grund zu der Annahme bietet, dass Deine Behauptung falsch ist:
Ein PlayBook der RAND Corporation, das im Auftrag der US Army erstellt wurde, schlägt auf 345 Seiten eine Kampagne von Maßnahmen vor, mit denen USA und NATO Russland unter Druck setzen sollte. Dort heißt es ausdrücklich, dass diese Maßnahmen nicht zur Verteidigung oder Abschreckung gedacht sind, sondern um Russland zu unter Druck zu setzen, seine Schwächen auszunutzen, seinen Einfluss zurückzudrängen - kurz, um Russland ohne militärische Gewaltanwendung zu schaden.
"We examine a range of nonviolent measures that could exploit Russia’s actual vulnerabilities and anxieties as a way of stressing Russia’s military and economy and the regime’s political standing at home and abroad. The steps we examine would not have either defense or deterrence as their prime purpose, although they might contribute to both. Rather, these steps are conceived of as elements in a campaign designed to unbalance the adversary, leading Russia to compete in domains or regions where the United States has a competitive advantage, and causing Russia to overextend itself militarily or economically or causing the regime to lose domestic and/or international prestige and influence."
Der ganze Report hier: https://t.co/UTenzeidm0?amp=1
DAS ist keine russische Propaganda.
Dass Russland dies als aggressives Verhalten wahrnimmt, muss wohl niemand wundern. Ebensowenig, dass Russland daraus dann eigene Propaganda schmiedet. Wir sollten nicht so naiv sein, um auf diese Propaganda hereinzufallen.
Wir dürfen aber auch nicht so naiv sein, Opfer unserer eigenen Propaganda zu werden.
Staaten und Allianzen haben Interessen. Diese zu ignorieren und einem simplifizierten "Gut"-"Böse"-Schema zu folgen ist falsch und kann zu schlimmen Konsequenzen führen. Ganz besonders im Spannungsverhältnis USA/NATO - Russland, die gut 90% aller weltweiten Nuklearwaffen gegeneinander richten.
Aus einer Quelle, die ganz und gar unverdächtig ist, russische Propaganda zu verbreiten - dem Atlantic Counsil - kommt diese lesenswerte Serie "Reality Check": https://www.atlanticcouncil.org/programs/scowcroft-center-for-strategy-and-security/new-american-engagement-initiative/reality-check-series/
Insbesondere der Reality Check Nr. 4 zu Russland sollten wir ernst nehmen (https://www.atlanticcouncil.org/content-series/reality-check/reality-check-4-focus-on-interests-not-on-human-rights-with-russia/)
Als eine Partei, die Regierungsverantwortung anstrebt, sollten wir in der Tat auf der Grundlage von Fakten Politik gestalten und immer unsere Ansichten und Aktionen einem Reality Check unterziehen.
Andrej Ferdinand Novak:
wenn man klug und faktenbasiert die Lage bewerten will, gehört es auch dazu, dass man Expertise anerkennt. In meinem Fall beruht diese auf bald 30 Jahren Beschäftigung mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen, sowie der intensiven Beschäftigung mit Russland in den letzten 22 Jahren, angefangen mit dem Diplomstudiengang der Politikwissenschaft an der FU Berlin mit Schwerpunkt Osteuropa, Masterabschluss in Russian Studies von der Europäischen Universität St. Petersburg und Fachveröffentlichungen zu außen-, sicherheits- und europapolitischen Fragen beim European Council for Foreign Relations, Atlantic Council, sowie auch Medienbeiträge in Print, Radio und Fernsehen wie der NZZ, etc. Von mir stammt der international erste Artikel über eine potenzielle UN-Peacekeeping Mission im Donbas von 2014. Ich spreche seit über 20 Jahren fließend Russisch und tue das täglich. Habe Russland und die Ukraine (auch Moldau, das Baltikum, Polen, etc) in den letzten über 20 Jahren bereist, auch weitab der Großstädte.
Außerdem der Hinweis, dass ich hier relativ kurz und nicht im wissenschaftlichen Stil schreiben werde, aber die Quintessenz in Kürze vermittelt werden soll.
Das nur einmal vorab. In einer fakten- und wissensbasierten Debatte ist Expertise unabdingbar.
Und jetzt zu den Fakten:
Deine Aussage
"Diese Spannungen sind ein Fakt. Selbst wenn wir annehmen, dass sie von westlicher Seite nicht intendiert wären - was jedoch nachweisbar nicht stimmt - so ist immerhin die russische Wahrnehmung der Spannungen ein Fakt.
Dies als bloße Propaganda abzutun, ist ein Fehler. Nicht zu unrecht gestehen wir unseren osteuropäischen Partnern und Verbündeten auch zu, ihre BedrohungsWAHRNEHMUNGEN ernst zu nehmen."
klingt so, als ob Du die Äußerungen von russischen Offiziellen für bare Münze nimmst, denn Du setzt diese Aussagen über eine vermeintliche Bedrohung mit einer tatsächlichen Bedrohungswahrnehmung gleich. Du gehst also davon aus, dass sie ihre ehrliche Meinung und Wahrnehmung kundtun. (Wobei dies selbst wenn es so wäre immer noch nichts darüber aussagen würde, inwiefern Fakten, die diese Wahrnehmungen rechtfertigen, existieren.)
Wenn Du diesen Aussagen so einfach Glauben schenkst, muss man das sowohl vor dem historischen Hintergrund als auch auf der Grundlage der Erfahrungen mit Putin und seiner Regierung als fahrlässig und naiv bezeichnen.
Ich will das anhand von einigen ausgewählten Beispielen illustrieren:
Der NKVD (KGB-Vorgänger) verübt 1940 in Katyn (und anderen Orten wie Charkiw) an Tausenden polnischen Offizieren und Führungspersönlichkeiten. Bis 1990 behauptet der NKVD, der KGB und die sowjetische Regierung, dass das Massaker von den Nazis begangen wurde.
Fazit: Die sowjetische Regierung und ihre Organe wurden der Lüge über einen selbst verübten Massenmord überführt.
Die Vasallen der UdSSR in der DDR von Stasi und Partei errichten die Berliner Mauer und die sonstigen DDR-Grenzanlagen zur BRD und nennen sie "Antifaschistischer Schutzwall"
1989 fällt die Mauer und dennoch entstand dort kein faschistisches System, sondern ein liberal-demokratisches.
Fazit: DDR und ihre Führung sind der Lüge überführt über die Freiheitsberaubung von Millionen Menschen unter dem Deckmantel des "Antifaschismus"
Der ehemalige KBG-Agent Alexander Litvinenko wird im Zentrum Londons von 2 russischen Agenten mit Polonium vergiftet und stirbt kurz darauf. Alle Vertreter Russlands dementieren eine Rolle der russ. Regierung bei der Vergiftung.
Die mehrjährige britische Untersuchung (entspricht von den Standards her einem Gerichtsprozess) kommt zu dem Schluss, dass die russische Regierung Litvinenko mit Polonium ermordet hat.
Fazit: Die russischen Offiziellen und der Auftraggeber und KGB/FSB-Mann Putin haben gelogen.
2008 antwortet Ex-KGB-Mann und Ex-FSB-Chef Putin auf die Frage von Thomas Roth, ob nach Georgien als nächstes die Krim dran ist, dass das ukrainisches Territorium ist und es keine größeren Probleme dort gebe. Er hätte keine Absichten bezüglich der Krim, das sei eine Unterstellung.
2014 annektiert Putin die Krim, die vorher militärisch besetzt wurde. Putin behauptet, dass die Krim schon immer russisch war.
Fazit: Putin hat entweder gelogen oder seine Meinung geändert. Jedenfalls ist auf Putins Aussagen ist kein Verlass.
Ende Februar 2014 übernehmen Soldaten ohne Hoheitszeichen die Krim. Putin sagt, dass sind keine russischen Soldaten, sondern lokale Kräfte. Später gibt Putin häppchenweise zu, dass es russische Soldaten waren und zeichnet sie mit Verdienstorden für die "Heimholung der Krim" aus.
Fazit: Putin log die Welt dreist an über die erste Annektion in Europa seit dem 2. Weltkrieg.
2014 beginnt der russische Geheimdienst mit Personal, Waffen und Geld, sowie mit massivster Propagandaunterstützung den Krieg im Donbas bzw. der Ostukraine. Auch das reguläre Militär ist bald voll involviert, sowie von kremlnahen Oligarchen gesponserte Einheiten. Der Krieg dauert bis heute an. Die russischen Einheiten sind gut bewaffnet, versorgt und finanziert, obwohl die Region offiziell überhaupt keinen Handel treiben darf.
Putin und seine Regierung dementieren bis heute, dass sie ihr Militär im Donbas haben und sprechen von lokalen Separatisten.
Fazit: Putin und seine Regierung lügen über den russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Die Kommandostruktur bis hoch zum Oberkommandierenden Putin sind moralisch, politisch und strafrechtlich verantwortlich für diesen Aggressionskrieg.
Im Juli 2014 schießt eine russische BUK-Luftabwehrrakete aus Kursk über dem Donbas ein das Passagierflugzeug MH17 mit fast 300 Zivilisten an Bord ab. Bis heute bestreitet der Kreml jede Verantwortung und setzte trotz eines von Anfang an recht klaren Falls stattdessen Reihenweise andere Versionen, denen zufolge die Ukraine oder der Westen verantwortlich sind. Es gibt bis heute keine Entschuldigung oder Entschädigungszahlung der russischen Regierung an die Hinterbliebenen der Opfer. Im Gegenteil wurde das Leid der Hinterbliebenen und die Verletzung der Würde der Opfer durch die maßlosen Lügen und das Stiften von Verwirrung erheblich gesteigert.
Eine jahrelange internationale Untersuchung stellte fest, dass es eine von russischen bzw. pro-russischen Kräften kontrollierte BUK war, die das Flugzeug abgeschossen hat. Zu diesem Schluss wird absehbar auch das Gericht in Den Haag kommen, vor dem aktuell 4 Beteiligten die damals in Diensten des Kremls waren der Prozess gemacht wird.
Fazit: Es war und wird von Putin und russischen Vertretern wie gedruckt gelogen und die Schuld dreist Unbeteiligten in die Schuhe geschoben. Das soll auch Putin als Oberkommandierenden schützen.
2018 werden Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury / England mit Novichok vergiftet. Eine unbeteiligte Britin wird zudem tödlich vergiftet. Russische Stellen dementieren eine Rolle der russischen Regierung an dem Mordanschlag. Die vermeintlichen Täter geben ein Interview und erzählen, ihre Reise wäre rein touristisch gewesen.
Das Recherchenetzwerk Bellingcat, Journalisten und staatliche Stellen in UK kommen zu dem Schluss, dass 2 bzw. 3 Killer im Auftrag des Kremls nach England gereist sind und den Giftanschlag begangen haben.
Fazit: Putin persönlich und die russische Regierung hat dazu gelogen.
Russland dopt über Jahre in fast jeder Sportart und trickst und schummelt, dass sich die Balken biegen, ohne jemals etwas davon zuzugeben.
Labore in unterschiedlichen Ländern weisen das Doping zweifelsfrei nach, es gibt sportgerichtliche Entscheidungen und Russland wird daraufhin für Jahre von großen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen.
Fazit: Die russischen Verantwortlichen im Dienst des Staates haben über Jahre geschummelt und gelogen.
Im August 2020 wird mit Alexej Navalny die de facto Führungsfigur Nr. 1 der russischen Opposition von einem Killerkommando des FSB, das vorher auch schon andere dem Kreml unliebsame Personen (wie Kara-Mursa, Verzilov, etc.) vergiftet hat, mit Novichok vergiftet, das in seinem Hotelzimmer auf seine Unterhose aufgetragen wurde.
Navalny überlebt knapp und bekommt später in einem Telefonat mit einem seiner Killer tatsächlich eine Bestätigung des Tathergangs von diesem.
Putin und russ. Regierungsvertreter sagen von Anfang an, dass sie nichts damit zu tun haben. Sie sehen die Schuld bei Navalny selbst und bei westlichen Regierungen bzw. Geheimdiensten.
Fazit: Der Auftraggeber des Killerkommandos Putin und seine Regierungsvertreter haben gelogen und die Verantwortung dreist auf Unbeteiligte abgeschoben.
Beim Bundestagshack, der Wahlbeeinflussung in Deutschland und anderswo und beim Tiergartenmord lief es nach dem gleichen Muster. Alles abstreiten und andere Schuldige präsentieren.
FAZIT: Man muss damit rechnen, dass Putin und russische Regierungsvertreter lügen und falsche, verleumderische Narrative verbreiten.
Die vermeintliche Aggression der NATO gegen Russland ist ein Narrativ, von dem der Kreml will, dass man es in Russland selbst und im Ausland glaubt. Der Kreml kennt die westliche Tendenz zur Selbstkritik gut und nutzt das geschickt aus.
Fakt ist, dass seit dem 2. Weltkrieg kein Land auch nur 1. Quadratzentimeter Russlands von außen angegriffen hat. Niemand, der bei Trost ist, würde auch nur darüber nachdenken, ein Land mit Tausenden Atomwaffen anzugreifen. Schon gar kein*e Spitzenpolitiker*in eines demokratischen Landes, der kritische Wähler*innen, Bürger*innen und eine Opposition hat, aber kein Kanonenfutter. An den Taten des Kremls kann man gut ablesen, dass man nicht wirklich Angst vor der NATO hat, da sowohl die Zusammensetzung der russischen Truppen, als auch deren Ausstattung, Stationierungsorte und vor allem Übungen nicht auf eine Verteidigung gegen die NATO ausgerichtet sind, sondern vielmehr auf offensive Operationen.
Bei der NATO auf der anderen Seite ist es umgekehrt. Es wird immer die Verteidigung geübt, niemals etwas, was in Richtung eines Angriffs auf Russland gehen würde. Die Truppenpräsenz der NATO einschließlich einheimischer Truppen in relativer Nähe zur Grenze mit Russland oder Belarus ist sehr überschaubar und viel geringer als die russische Truppenpräsenz auf der anderen Seite der Grenze. Die NATO verfügt in Europa kaum noch über Panzer und Artillerieeinheiten, wohingegen Russland in diesem Bereich über ein Vielfaches der kampffähigen Einheiten verfügt. Gleichzeitig leben bzw. lebten Kinder und andere Familienmitglieder russischer Regierungsmitglieder wie Putin, Lawrow & Co sowie Staatspropagandisten ein Dolce Vita in NATO-Ländern wie den USA, Frankreich und Großbritannien und haben nicht selten dort einen Pass.
Fazit: Die NATO hat gegenüber Russland ausschließlich defensive Absichten. NATO-Länder haben nach dem Ende des Kalten Krieges massiv abgerüstet, besonders in Bereichen, die für eine konventionelle militärische Auseinandersetzung mit Russland wichtig wären. Der Kreml weiß das auch, aber das Narrativ der Gefährdung durch die NATO ist nach innen und außen zu nützlich für das Regime, um es nicht maximal verbreiten und zu melken. Er benutzt dieses Narrativ als Vorwand und Rechtfertigung für eigene militärische Aggressionen und Brüche des Völkerrechts. Der Ukraine aufgrund dieser Narrative die Orientierung zur EU und NATO zu verwehren und dem Kreml freie Hand für militärische Aggressionen gegen die Ukraine oder ein anderes friedliches Land zu geben käme der Einräumung einer Einflusszone und einem Raubbau völkerrechtlicher Normen gleich. Unabhängig davon, ob das hier bei uns gewollt, intendiert oder verstanden wird ist es de facto so. Da ist schon 2014 enormer Schaden für die europäische Friedensordnung und das Völkerrecht entstanden. Wenn wir noch mehr hinnehmen ist die Frage, was davon noch übrig ist. Die russische Aggression gegen die Ukraine und Besetzung der Krim und von Teilen des Donbas hat auch die Sache der atomaren Abrüstung massiv geschädigt, da hier ein Land angegriffen wurde, das aufgrund von Sicherheitsgarantien u.a. von Russland im guten Glauben 1.500 Atomwaffen abgegeben hat, sowie auch ansonsten von 1991 bis 2013 massiv abgerüstet hat.
Soweit zu den Aussagen der russ. Regierung, ihrer Vertreter und Propagandakanäle.
In der russischen Bevölkerung hingegen ist knapp die Hälfte der Europäischen Union (in der die meisten Mitglieder in der NATO sind) gegenüber positiv eingestellt und wünscht sich partnerschaftliche Beziehungen Russlands zur EU. Und das trotz der jahrelangen Bemühungen der Propagandamedien, den Westen und auch die EU negativ darzustellen.
https://www.levada.ru/en/2020/09/30/attitudes-toward-countries-4/
https://tass.com/society/1261493
Es ergibt sich also ein Bild, in dem die Bevölkerung in Russland deutlich pro-europäischer ist als die russische Regierung. Warum sollten wir die Äußerungen der Regierung mit der Wahrnehmung der Bevölkerung gleichsetzen?
Das ist der nächste typische Kardinalfehler, nämlich die russische Regierung mit Russland oder der russischen Bevölkerung gleichzusetzen. Und die Interessen dieser Regierung mit denen der Bevölkerung gleichzusetzen. Das ist grundfalsch, denn diese unterscheiden sich erheblich.
Da freie und faire Wahlen in Russland abgeschafft sind und Oppositionelle mit Gefängnis, Gift und sonstigen Attentaten verfolgt werden muss man von einer Clique sprechen, die eine Machtergreifung durchgeführt hat und diese auf Dauer aufrechtzuerhalten gedenkt. Wir haben es also mit State Capture durch das nicht (mehr) legitime Putin Regime zu tun.
Die Bevölkerung hingegen wünscht sich mehrheitlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sowie Freiheits- und Bürgerrechte und eine gute ökonomische Entwicklung.
Die Entwicklungsindikatoren für Russland sehen aber vom Durchschnittslohn über den Gini-Koeffizienten (sehr hohe Ungleichheit) bis zur Lebenserwartung ziemlich schlecht aus. Ebenso Indikatoren für Demokratie, Pressefreiheit, Menschenrechte, etc.
Die russische Bevölkerung ist also eher eine weitere Leidtragende des Regimes als dass es ihre Interessen vertritt. Viele in der Bevölkerung sind sich darüber aber nicht bewusst, da geringe politische und staatsbürgerliche Bildung auf hochprofessionelle und psychologisch sehr geschickte Propaganda über Jahre auf fast allen Kanälen das erwartbare Resultat gezeitigt haben.
Wobei natürlich das Beispiel Belarus auch zeigt, dass es selbst unter solchen Bedingungen zum Versuch der Bevölkerung kommen kann, sich vom Regime zu befreien. Was natürlich zu der Frage führt, ob die abgegebenen Stimmen, Äußerungen und Wahrnehmungen der Mehrheit der Belarusen zu akzeptieren sind oder ob die von Lukashenka und Putin Vorrang haben.
Nun zu Deinem Playbook der RAND Corporation, das Du zitierst um eine aggressive Haltung der NATO zu Russland belegen:
Die RAND Corporation ist nicht die NATO, kann also nichts beweisen, was die NATO betrifft.
Der Text von RAND macht im Wesentlichen den Fehler, sprachlich nicht differenziert zu unterscheiden zwischen dem Kreml bzw. dem Regime und Russland als Land bzw. dessen Bevölkerung. Für mich geht aus dem Text aber klar hervor, dass die Regierung bzw. das Regime gemeint ist. Auf der Grundlage der vielen Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen, die das Regime begeht und vor dem Hintergrund der von mir oben beschriebenen Machtergreifung/State Capture durch das Putin Regime ist die Bezeichnung als adversary und das Ziel der Schwächung desselben nachvollziehbar. Aber auch hier ist nirgends etwas geschrieben vom Einsatz von Gewalt innerhalb Russlands.
Im Gegenteil muss man den Passus “ leading Russia to compete in domains or regions where the United States has a competitive advantage” so verstehen, dass russisches Staatsgebiet explizit ausgenommen ist von diesen, übrigens explizit “gewaltlosen” (Original “nonviolent”) Maßnahmen. Warum die russische Bevölkerung Angst davor haben müsste ist unklar.
Du schreibst:
“Staaten und Allianzen haben Interessen. Diese zu ignorieren und einem simplifizierten "Gut"-"Böse"-Schema zu folgen ist falsch und kann zu schlimmen Konsequenzen führen.”
Die Interessen des Kremls kann man gut an seinen Taten und den Ergebnissen der mehr als 20 Jahre Putin Regime ablesen. Sie scheinen nicht den Interessen der Bevölkerung zu dienen, dafür aber umso mehr der herrschenden kriminellen Gruppe.
Es ist simplifiziert und unterkomplex, Russland und seine Regierung als einen monolithischen Block zu betrachten, in dem es einheitliche Interessen gibt.
Bezüglich des Reality Checks Nr. 4 von Burrows / Ashford gab es zu Recht einen Backlash von so gut wie allen renommierten Russland/Osteuropa-Leuten im Atlantic Council:
https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/new-report-on-russia-policy-misses-the-mark/
Ein Ereignis mit Seltenheitswert. Diese Kritik teile ich und würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass viele der Argumente von Burrows / Ashford durch die Realität widerlegt sind.
Haben etwa die “carrots” der Vergangenheit wie dicke Handels- und Investitionsdeals, Einladungen zu den Top-Kreisen wie G8 und NATO-Russland-Rat, Rote Teppiche und Staatsempfänge, die schnelle Rückkehr zum business-as-usual nach dem Georgien-Krieg, der Reset unter Obama, die Charme-Offensive von Macron und der Wille zum Frieden und Gespräch mit Putin von Präsident Zelensky das Putin Regime in die gewünschte Richtung verändert? Oder ist es nicht vielmehr dennoch stetig schlimmer geworden?
Du schreibst:
“Als eine Partei, die Regierungsverantwortung anstrebt, sollten wir in der Tat auf der Grundlage von Fakten Politik gestalten und immer unsere Ansichten und Aktionen einem Reality Check unterziehen.”
Dazu gehört, die rosarote Brille gegenüber der russischen Regierung abzulegen und die Gruppe zu sehen, die die Macht in Russland ergriffen und das, was an Demokratie da war, weitgehend zerstört hat und sich schamlos extrem bereichert, die einen Aggressionskrieg in der Ukraine führt, eine Boeing mit 300 Zivilisten an Bord (überwiegend EU-Bürger) abgeschossen und sich dafür nicht einmal entschuldigt hat, die in Syrien gezielt Bomben auf Schulen, Krankenhäuser und Wohnblocks wirft und dem Assad-Regime die Waffen liefert um dasselbe tun zu können (Kriegsverbrechen) und das einen Hybriden Krieg gegen liberale Demokratien weltweit führt und andererseits autoritäre und diktatorische Herrscher weltweit stützt.
Die "Spannungen" gehen vom Kreml aus, nicht von der EU, der NATO oder der Ukraine.
Thomas Schmidt:
“…wenn man klug und faktenbasiert die Lage bewerten will, gehört es auch dazu, dass man Expertise anerkennt.”
Ich erkenne Expertise grundsätzlich an.
Das schließt aber nicht aus, Theorien, Schlussfolgerungen, ja selbst Erhebungen zu vermeintlichen Fakten kritisch zu hinterfragen, wenn sie nicht überzeugend sind.
Albert Einstein sah sich z. B. einer geballten Front von Expertise gegenüber, als er seine Relativitätstheorie veröffentlichte. Alles hochdotierte und anerkannte Physiker, die trotz aller Expertise in ihrem Fach grandios irrten.
Expertise ist notwendige Bedingung für wahre Erkenntnis. Hinreichend ist sie nicht.
Expertise habe ich im Übrigen auch.
Ich bin Diplomphysiker und beschäftige mich seit gut 45 Jahren in unterschiedlicher Intensität und Dauer mit strategischen Fragen und globalen Problemen (seit dem ersten Bericht an den Club of Rome 1972), und seit ein paar Jahren mit Nuklearstrategien und dem Risiko nuklearer Eskalation.
Und nur zur Info und Vervollständigung: Ich habe 33 Jahre hinter dem s. g. Eisernen Vorhang gelebt und war ein ganz kleines Teilchen der Bewegung, die letztlich zur Überwindung SED-Herrschaft beitrug. Ich kenne dieses System aus eigener Anschauung. Russisch kann ich kann ich vermutlich nicht im Ansatz so gut, wie Du.
Als ich mich vor ein paar Jahren für einen Aufsatz über die strategischen Implikationen eines KI-Wettrüstens auch mit der aktuellen Renaissance von Nuklearwaffen und der Entwicklung von Nuklearstrategien zu beschäftigen begann, bin ich sehr schnell auf das hier in Rede stehende Thema der neuen geostrategischen Rivalität zwischen Großmächten gestoßen.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht alles drüber weiß, was man wissen kann.
Ich gebe auch zu, dass ich alles durch die Brille der Bedrohung der Menschheit durch Nuklearwaffen sehe. Das mag für den einen oder anderen eine verzerrte Sicht sein. Für mich (und viele andere) die sich intensiv mit dieser Frage beschäftigen, ist es nicht verzerrt.
Wir sind davon überzeugt, dass die Bedrohung durch Kernwaffen neben der Bedrohung durch die globale Erderwärmung DIE zentrale existenzielle Herausforderung dieser Tage ist.
Die nukleare Dimension dieser Rivalität dominiert seit 1945 das System der internationalen Beziehungen. Das nicht zu sehen und zu leugnen, ist gefährlich und unklug.
QUELLEN
“klingt so, als ob Du die Äußerungen von russischen Offiziellen für bare Münze nimmst, denn Du setzt diese Aussagen über eine vermeintliche Bedrohung mit einer tatsächlichen Bedrohungswahrnehmung gleich. Du gehst also davon aus, dass sie ihre ehrliche Meinung und Wahrnehmung kundtun. …Wenn Du diesen Aussagen so einfach Glauben schenkst, muss man das sowohl vor dem historischen Hintergrund als auch auf der Grundlage der Erfahrungen mit Putin und seiner Regierung als fahrlässig und naiv bezeichnen.”
Nein. Ich nehme nicht die Äußerungen von russischen Offiziellen einfach für bare Münze. Das ist eine Unterstellung.
Meine Quellen zur Feststellung von zuverlässigen Tatsachen sind sehr vielfältig. Hauptsächlich sind das wissenschaftliche Studien und Arbeiten anerkannter Experten aus dem sicherheitspolitischen Umfeld, überwiegend aus den USA und der EU bzw. NATO. Praktiker und Akademiker. Wissenschaftler am SIPRI, dem Bulletin of the Atomic Scientists, der Arms Control Association, NATO-Headquarter usw. usf. Analysen mit ausführlichen Quellenverzeichnissen. Sofern Äußerungen s. g. “russischer Offizieller” auch unter diesen Quellen sind, nehme ich sie nicht unkritisch und ungeprüft für bare Münze.
Glauben schenke ich generell nicht. Fakten, Logik und Deduktion und wieder Fakten sind die meine Religion.
Nicht das, was in der Zeitung steht.
Schade, dass ich das überhaupt erwähnen muss.
BEISPIELE
“…Ich will das anhand von einigen ausgewählten Beispielen illustrieren:…”
Was willst Du mit diesem Sammelsurium von Bewertungen und Aussagen zu verschiedenen Ereignissen aus der Geschichte und jüngeren Datums zeigen? Hier ist nichts wirklich wissenschaftlich sachlich - eine bunte Mischung aus Fakten und Spekulationen, aus Annahmen und Theorien, deren experimentelle Verifikation teilweise noch aussteht oder zweifelhaft ist.
Aber selbst wenn ich mal unterstelle, dass alles die reine Wahrheit wäre und nichts als die Wahrheit: Diese Zusammenstellung liefert Hinweise darauf, dass der russische Staat und seine Führung, insbesondere Putin, russische und womöglich auch persönliche Interessen mit fragwürdigen, schmutzigen, kritikwürdigen Mitteln verfolgt und Propaganda betreibt, lügt und täuscht, wenn es den eigenen Interessen dient.
Nur damit wir uns richtig verstehen - ich rechtfertige das nicht. Ich entschuldige das nicht. Ich finde es empörend und verurteile es, wie Du. Ich verurteile es genau so, wie ich jeden anderen, der Menschenrechte und Freiheit mit Füßen tritt, verurteile. Wir wissen alle, dass es außer Russland und China noch viele andere Mächte gibt, die ebenso skrupellos sind.
Mehr geben diese Beispiele nicht her. Schon gar kein Argument gegen die geopolitische Dismension dieser Ereignisse. Eher noch dafür, dass das Auswüchse der geopolitischen Rivalität zwischen USA und Russland sind.
FAKT IST?
“…Fakt ist, dass seit dem 2. Weltkrieg kein Land auch nur 1. Quadratzentimeter Russlands von außen angegriffen hat. Niemand, der bei Trost ist, würde auch nur darüber nachdenken, ein Land mit Tausenden Atomwaffen anzugreifen. Schon gar kein*e Spitzenpolitiker*in eines demokratischen Landes, der kritische Wähler*innen, Bürger*innen und eine Opposition hat, aber kein Kanonenfutter.”
Da Du ja - ohne irgend einen Beleg und ohne mich zu kennen - mich als “fahrlässig” und “naiv” charakterisiert hast, muss ich Dir leider bescheinigen, dass der Naive Du bist, denn diese hier gerade zitierte Aussage ist schlicht unwahr. Unhaltbar unwahr.
Warum? SIOP 62 - der Single Integrale Operational Plan 62, der von Präsident Kennedy bestätigt und genehmigt wurde (zweifellos DER spitzenpolitiker eines demokratischen Landes) , sah vor, für den Fall einer Eskalation in einer Krise - wie z. B. der Berlin Krise - wenn ein Krieg mit der Sowjetunion unvermeidlich erscheinen würde, weil vitale Interessen der USA bedroht wären, mit einem Full Scale Counterforce First Strike als erster zuzuschlagen, in der Hoffnung, damit den Nuklearkrieg zu gewinnen, die eigenen Schäden zu limitieren und die Sowjetunion de facto auszulöschen.
Über 250 Millionen Tote waren auf Seiten der Sowjets einkalkuliert; 10 Millionen auf US Seite. Das wäre passiert, wenn Chruschtschow - statt das aus seiner Sicht existenziell bedrohliche Leck Westberlin mit der Mauer zu schließen - es gewagt hätte, Westberlin militärisch einzunehmen. Darüber kann man lange nachdenken, ob die militärische Einnahme Westberlins durch die Russen einen nuklearen Holocaust gerechtfertigt hätte, von dem wir heute wissen, dass dies zu einem Ende der Zivilisation geführt hätte, wie wir sie heute kennen. Angesichts der Tatsache, dass nur 28 Jahre später West- und Ostberlin unblutig und friedlich unter demokratischen Verhältnissen wiedervereinigt wurden, ist es absurd, diese Rechtfertigung zu formulieren. Quelle: Fred Kaplan, The Bomb, Presidents, Generals, and the Secret History of Nuclear WarSimon & Schuster, February 2, 2021 (auf der Basis von deklassifizierten Dokumenten und Interviews mit Augenzeugen).
BTW:
SIOP war bist 2003 der gültige Oprationsplan für den Nuklearwaffenseinsatz der USA mit einigen wenigen, gleich irrsinnigen Optionen, die ein US Präsident im Krisenfall wählen kann.
Seit 2012 heißt er OPLAN 8010-12.
Wir können getrost davon ausgehen, dass ähnlich irrsinnige Operationspläne auch auf russischer Seite existieren. Quelle: Pavel Podvig, Russian Strategic Nuclear Forces, MIT Press 2004.
Die beidseitige, berechtigte Furcht vor der gegenseitigen absoluten Vernichtung - und sei es nur auf Grund eines Missverständnisses - ist der Hintergrund auf dem man alle Aktionen und Reaktionen, alle Lügen und Propaganda, alle Diplomatie und alle Proxy-Kriege sehen, verstehen und bewerten muss, die heute die internationale Politik bestimmern.
Das ist die geopolitische Realität im Nuklearzeitalter, deren Risiken und Widersprüche durch disruptive Technologien im 21. Jahrhundert extrem verschärft werden.
Das zu ignorieren ist wirklich gefährlich fahrlässig und naiv.
Daniel Hecken: